Geschichte einer Störung

Auf die Historie schauen

Wir leben ja in wunderbaren Zeiten: Jeden Tag können wir in der Zeitung lesen, wie wir uns noch gesünder verhalten können, gesünder essen, gesünder bewegen, etc. Das blöde ist nur, dass sich das, was als „gesund“ gilt, sich mit dem Stand der Forschung ständig verändert. Was gestern noch gesund war, ist heute schon nicht en vogue und gehört quasi verboten. Dann gibt es ja unzählige Ideen dazu, was gesund ist. Und die Ideen widersprechen sich auch noch regelmäßig. Wer stets nach den neuesten Erkenntnissen gesund leben will, der kommt zu nichts anderem mehr. Das kann doch nicht gesund sein!

Weil wir das alles so brav mitmachen und sich tatsächlich auf dem medizinischen Sektor viel getan hat, ist die Lebenserwartung in den letzten 100 Jahren im Durchschnitt deutlich gestiegen ist. Eine ganze Reihe von Entdeckungen macht unser Leben immer schöner (veganes Essen, das Fitness-Studio, die Fertig-Pizza etc.) und viele Krankheiten können heute geheilt werden oder wenn nicht, so können sie in ihrem Verlauf doch deutlich abgemildert werden.

Hingegen erfreuen sich psychische Auffälligkeiten immer größerer Beliebtheit bei Kranken und Ärzten. Wobei das nur bedingt stimmt. Die Zahl der psychisch Erkrankten nimmt nicht wirklich zu, lediglich ihre Wahrscheinlichkeit aufzutreten ist erhöht; allein die Möglichkeit an Demenz zu erkranken ist bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von sagen wir 45 Jahren deutlich geringer als bei einer Lebenserwartung um die 80 Jahre.

Dass psychische Erkrankungen heute besser heilbar sind, verdanken wir im Wesentlichen zwei Institutionen: Sigmund Freud und der  Pharmaindustrie. Freud hatte die bahnbrechende Idee, dass Menschen ihre Probleme lösen können könnten, wenn man mit ihnen über genau diese Probleme spricht. Ich will jetzt gar nicht Freuds Psychoanalyse und seine Theorien auf einen Sockel stellen oder hier auseinandernehmen. Aber unbestritten ist, dass es ohne ihn in der Psychiatrie heute ganz anders aussähe – und nicht unbedingt besser. Und außerdem wären ohne Freud die Filme von Woody Allen nicht denkbar.

Ich vermute übrigens seit langem, dass Sigmund Freud durch seine Frau drauf gebracht wurde, dass Reden Probleme löst. Daher ist die Psychoanalyse ja auch eine zuhörende Veranstaltung. Der Patient liegt auf der Couch und spricht und der Therapeut sitzt und hört zu. Das ist eine Erfahrung die viele Ehemänner so oder so ähnlich machen. Eine spricht, einer hört zu.

Bei aller Kritik an der Pharmaindustrie – Medikamente tragen oftmals zu einer entscheidenden Verbesserung der psychischen Gesundheit bei.

Mitte des 19. Jahrhunderts sah das noch anders aus. Da gab es noch keine Psychoanalyse, keine Verhaltenstherapie oder gar wirksame Medikamente gegen hirnorganische Störungen. Ganz wichtig, es gab auch für viele Erkrankungen keine einheitlichen Namen; während heute durch die Weltgesundheitsorganisation alle Krankheiten eine eigene Ziffer bekommen haben in der sogenannten ICD-10 – die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (oder auf Englisch International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems). Da steht fein säuberlich aufnotiert, was der Arzt dann diagnostizieren darf. Findet er die Symptome nicht, ist er entweder einer medizinischen Sensation auf der Spur, oder man sollte die Praxis des Quacksalbers schnellstmöglich verlassen.

Ein Beispiel: eine akute Blinddarmentzündung hat die Nummer K35 oder die klassische Erkältung wird irgendwo im Bereich J00 bis J22 verortet, je nachdem, wie es Sie erwischt hat. Die beliebtesten Schlüssel sind übrigens  Rückenschmerzen (M54) und Bluthochdruck (I10). Wobei ich immer finde, Diagnosen nach dem ICD-10 Schlüssel ist wie beim Chinesen essen gehen. Egal ob Sie in Dortmund, München oder Pinneberg zum Chinesen gehen, auf der Karte ist die  „E43“ immer „Hündchen süß-sauer“.

Als die Medizin noch nicht so sauber trennen konnte zwischen den einzelnen Krankheiten, da entstanden zwei Bücher, die exakt das beschrieben, was heute noch medizinischer Standard ist, wenn es um die Symptombeschreibung auffälliger Kinder und Jugendlicher geht. Da wäre der Struwwelpeter von Henrich Hoffmann mit seinem Personal: Der böse Friedrich, das arme Paulinchen, der Suppenkaspar, Hans Guck-in-die-Luft und natürlich der Namensgeber aller ADHS-Patienten: Der Zappelphilipp. Lesen Sie nach bei Hoffmann, ist viel schöner zu lesen als die ICD-10!

Noch schöner zu lesen sind die Geschichten von Max und Moritz, die Wilhelm Busch 1865 herausgab. Nun sind Max und Moritz nicht unbedingt klassische ADHSler, das sind eher Kinder mit einer „Störung des Sozialverhaltens“, die wiederum eng mit der ADHS zusammenhängt. In der ICD-10 steht sie als Ziffer (F91) direkt hinter ADHS (F90).

Entgegen der meist hohen Belastung der Eltern ist die literarische Verwertung von ADHS-Kindern oder sozial auffälligen Kindern nachgerade spitze: Astrid Lindgren hat nicht nur den zauberhaften  „Michel aus Lönneberga“ oder „Pippi Langstrumpf“ sondern auch den eher sozial auffälligen Karlsson vom Dach erfunden. Mark Twain schenkte uns „Tom Saywer“ – um nur einige der absoluten Klassiker zu erwähnen. Wäre das Sams von Paul Maar ein Mensch, dürfte man ihm ebenso eine Diagnose stellen.

ADHS ist keine Modeerscheinung; erstmals wissenschaftlich beschrieben wurden die Symptome vor über 100 Jahren von dem englischen Kinderpsychiater Georg F. Still. Seit dieser Zeit wird über diese Form der psychischen Störung geforscht und geschrieben. Sie gilt als eine der bestuntersuchten und beschriebenen Störungen für das Kinder- und Jugendalter weltweit.

Für den ADHS-Leser:

Alles was man wissen muss über ADHS und ähnliche psychische Störungen steht im „Struwwelpeter“ oder in „Max und Moritz“. Wenn das nicht reicht, lesen Sie „Michel aus Lönneberga“.

ADHS gibt es schon lange und es ist keine Erfindung der Pharmaindustrie. Die müssen keine Störungen erfinden, die gibt es genug. Die müssen nur die passenden Chemikalien finden.


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