Als das Hirn stockte, Teil II oder Multi-Tasking ist dem ADHSler sein Untergang

Bevor wir anfangen: Liebe Grüße an Bastian Sick! (Der Genitiv ist der Akkusativ von Dativ!)

Wir hatten uns ja bereits über das bio-technische Wunder „Gehirn“ unterhalten. Und da gleich eine weitere sensationelle Erkenntnis: Ein Forscherteam fand heraus, dass das Gehirn bei ADHSlern um etwa drei Jahre in seiner Entwicklung hinterherhinkt, d.h. die sind nicht doof, die sind einfach verspätet! Gleichzeitig ist das Bewegungszentrum bereits gut entwickelt, lediglich die höheren Kontrollinstanzen noch nicht. Die Forscher vermuteten, dass dies die motorische Unruhe erklären könnte (Shaw u.a., 2007).

Die höheren Kontrollinstanzen im Gehirn bezeichnet man auch als die exekutiven Funktionen. Ein schöner Vergleich wird häufiger bemüht dafür: Die exekutiven Funktionen sind der „Dirigent“ im Gehirn, der dort für Ordnung sorgt und die Handlungen des Orchesters in die richtige Reihenfolge bringt. Und wenn der Kapellmeister krank ist und ständig husten muss beim Konzert, dann spielt das Orchester wohlmöglich irgendwelchen Unsinn, weil die Anweisungen nicht mehr so klar und deutlich kommen von vorne!

ADHS ist vor allem eine Störung der Selbststeuerung. Das Gehirn schafft es also weniger gut, jene Bereiche zu aktivieren, die für eine bestimmte Aufgabe gebraucht werden und jene Bereiche zu deaktivieren, die gerade nicht gebraucht werden. Man könnte es auch so formulieren: Der Dirigent macht Faxen, aber er dirigiert nicht!

Wenn wir am Schreibtisch sitzen und arbeiten wollen, macht es ja viel Sinn, dass wir die Alltagsgeräusche von draußen „ausblenden“; das, was wir immer hören, hören wir also nicht mehr. Das schönste Konzert wird ja nicht besser, wenn die Musiker alle zugleich spielen. Nichts gegen die Violine, aber wenn in dem Stück erst die Flöten dran sind, stört mich ja der Geiger, der schnell nach Hause will und schon mal seinen Part abarbeitet doch enorm. Und dann wird die erwartete Euphonie zur Kakophonie. (Klingt Kacke, daher der Name!)

Das Hirn nimmt es zwar wahr, was draußen passiert, filtert es aber als „Alltagsgeräusche“ raus, die keinerlei Aufmerksamkeit bedürfen. Ändert sich der Geräuschpegel schlagartig, werden wir aufmerksam und können uns wohlmöglich weniger gut auf die Aufgabe am Schreibtisch konzentrieren. Das macht also in der Regel viel Sinn, „unwichtige“ Dinge herauszufiltern. Einen ständigen Wechsel zwischen gleichwichtigen Dingen bekommen wir aber nicht hin. Es bleibt immer etwas auf der Strecke. Und genau das fehlt ADHSlern, die können nur sehr mühsam und mit hohem Energie-Aufwand bei Arbeiten bleiben, die ihnen wenig Freude machen, deren Gehirn ist nicht so gut in der Lage den Filter „Wichtig/Unwichtig“ aufzusetzen und unnötiges einfach zu ignorieren. Probieren Sie mal Fernsehen und Radio gleichzeitig; ist eine schöne Erfahrung. In etwa so muss es sich anfühlen, wenn die Trennung wichtig/unwichtig weniger gut funktioniert im Hirn.

Für den ADHS-Leser:

ADHSler können die gleichen  Denkleistungen (auch in der Schule) vollbringen wie der Rest, es strengt sie nur vielleicht mehr an. Es fehlt eben die Fähigkeit, sich auf eine Sache zu konzentrieren und unwichtiges zu ignorieren.

„Mein Hirn macht mir dauern Vorschläge und ich krieg nicht einen davon abgelehnt!“

 

Für die, die mehr wissen wollen:

Castellanos, F.X., Giedd, J.N., Marsh, W.L., Hamburger, S.D., Vaituzis, A.C., Dickstein, D.P., Sarfatti, S.E., Vauss, Y.C., John W. Snell, J.W., Nicholas Lange, N., Kaysen, D., Krain A.L., Ritchie, G.F., Rajapakse, J.C. und Rapoport, J.L. (1996): “Quantitative Brain Magnetic Resonance Imaging in Attention-Deficit Hyperactivity Disorder“ in Archives of General Psychiatry, Vol. 53(7), Seite 607-616

Shaw, P. und andere (2007): “Attention-deficit/hyperactivity disorder is characterized by a delay in cortical maturation” in PNAS, Proceedings of the National Academy of Science, Vol. 104 (49), Seite 19649-1965. Ich gebe zu, ich habe die 19648 Seiten vorher nicht gelesen!

 


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